6 Fragen an Klaus-Rüdiger Mai

Wir kennen Sie als Historiker, als Philosoph und Germanist, und natürlich vor allem als Schriftsteller, als Biograph historischer Persönlichkeiten und als Essayisten und Publizisten gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Themen. Ist dieses Buch nun eine Biographie der Person Sahra Wagenknecht?

Sie ist beides: eine Biographie der Person, aber auch des Landes. Der Dramatiker Carl Sternheim hat einen bemerkenswerten Essay „Vorkriegseuropa im Gleichnis meines Lebens" genannt. Das ist vorzüglich auf den Punkt gebracht, was auch mich interessiert, Geschichte und Gegenwart aus der Perspektive individuellen Lebens zu erzählen, denn nicht zufällig haben Geschichte und Geschichten den gleichen Ursprung. Menschen machen Geschichte und Menschen werden durch Geschichte gebildet. Dem nachzugehen, Menschen und Zeit zu erzählen, das interessiert mich immer wieder, denn nirgends lässt sich Geschichte besser verstehen als im Brennglas der Biographie. Das Buch erzählt nicht nur den Lebensweg der einflussreichen Politikerin von einem eher scheuen und zurückhaltenden jungen Mädchen zur eloquenten Intellektuellen, es erzählt im gleichen Schriftzug deutsche Geschichte in der Hauptsache von 1985 bis heute. 


Sie mahnen mangelnde Pluralität, einen wahren „ Repräsentationscanyon" in der derzeitigen politischen Regierungslandschaft an. Meinen Sie, dass BSW diese Lücke für den Bürger wirklich schließen kann?

BSW muss erst wirklich Partei werden, denn mit der Gründung ist doch das wenigste getan. Will man beim seit 100 Jahren überholten Links-rechts-Schema verharren, dann findet sich der Repräsentationscanyon auf der linken, als auch auf der rechten Seite – und dazwischen stehen die alten und älteren Parteien auf einer an ihren Rändern heftig bröckelnden Scholle. Die älteren und alten Parteien haben sich bildlich gesprochen in der woken Blase von Berlin-Mitte versammelt, die mit Blick auf das Spektrum von 1995 eine sehr linke Mitte ist und die weit nach Links ausgreift. Ermöglicht wurde das durch die scharfe Linkskurve der Merkel-CDU und dadurch, dass die sozialpolitische Linke, die Sahra Wagenknecht vertritt, den Kampf gegen die identitätspolitische Linke verloren hat. Die Union, die Grünen, die SPD und auch die Partei Die Linke buhlen um die gleiche Wählerschicht, um die, um im Bild zu bleiben,  Bewohner von Berlin-Mitte, von München Schwabing und Hamburg Eppendorf.  In diesem schmalen politischen Korridor tritt man sich naturgemäß ständig auf die Füße. Deswegen die spitzen Aufschreie bei Lappalien. Wachsende Wählerschichten, vor allem die, die in mittelgroßen bis kleinen Städten und in den Dörfern wohnen, werden nicht mehr politisch vertreten. WerteUnion, BSW, andere Neugründungen könnten die Lücke schließen. Fest steht jedenfalls, dass das Parteiensystem in Bewegung geraten ist und die Konsensdemokratie objektiv in eine konfrontative Demokratie übergeht. Die Zukunft wird, auch wenn das nicht immer schön ist, spannend. 


Inwieweit ist Wagenknechts Skepsis an der Wende 1989 und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des Ostblocks noch immer Nährboden für kommunistische Tendenzen in ihrer Bewegung? 

Das trifft die Erzählung des Buches. Dahinter steht die Frage, inwieweit sie eine Kommunistin ist, die lediglich die Stola des Ordoliberalismus um ihre Schultern gelegt hat. Der Leser ist eingeladen, diese Frage sich selbst zu beantworten unter Betrachtung der Analyse und Beschreibung des Denkens und der politischen Motivationen und Prämissen Sahra Wagenknechts, die im Buch dargestellt werden. Deutlich wird, dass mit den Bestimmungen der politischen Gesäßgeographie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, also mit „rechts" oder „links" die Realität nicht mehr zu erklären, sondern nur noch zu verklären ist. Selbst die Frage, wie viel Kommunismus in Sahra Wagenknecht steckt, lässt sich nicht beantworten, wenn man nicht vorher klärt, was Kommunismus ist und welcher Kommunismus in Rede steht. Mit dumpfen Stereotypen und Vorurteilen ist es jedenfalls nicht getan.


In ihrem Buch steht auch eine besondere Verbindung zwischen der jugendlichen Sahra Wagenknecht und dem viel älteren Autor Peter Hacks im Mittelpunkt. Inwieweit prägte dieser hochgebildete Stalinist die junge Genossin? 

Das ist wirklich hoch interessant, zu wenig beachtet, ja nahezu unbekannt. Peter Hacks hat sie in der Tat sehr geprägt. Mehr verrat ich aber nicht an dieser Stelle, denn die Geschichte verfolge ich im Buch in allen ihren rasanten Wendungen.
 

Gregor Gysi bezeichnen Sie in ihrem Buch einmal als den „Roland Kaiser der PDS". Wo genau ist für Sie die causa des permanenten internen Partei-Streits der beiden Alphatiere Wagenknecht und Gysi verortet?

Da gibt es verschiedene Phasen und unterschiedliche Ebenen. Meiner Beobachtung nach existiert zwischen beiden auf der menschlichen Ebene, freundlich formuliert, eine tiefe Fremdheit, die nur Befremden produziert, komplett unterschiedlich ist auch der Habitus, Gysi strahlt vor dem Hintergrund der Partei, Wagenknecht strahlt durch den Widerspruch zur Partei, Gysi ist der menschelnde Apparatschik, der leutselige Funktionär, Wagenknecht die kühle Intellektuelle, die immer eine Distanz zum Apparat hält. Anfangs standen sie für diametral entgegengesetzte Ausrichtungen der PDS, inzwischen kann ich mir sogar vorstellen, dass mit Blick auf den identitätspolitischen Turn der Linken die Positionen von Wagenknecht und Gysi nicht weit auseinander liegen. Doch die Vergangenheit  mit all den Verletzungen, die Unterschiede im Typ dürften wohl nicht überwunden werden, zumal Wagenknecht mit der Gründung von BSW Gysis Lebensweg so oder so zunichte macht. Peter Hacks hatte einmal in den 90ern formuliert, dass Wagenknechts Aufgabe darin bestünde, die PDS (also heute die Linke) zu zerschlagen. Das dürfte ihr mit erheblicher Verspätung jetzt glücken. Mission completed.


Die Europa-Wahl in diesem Jahr wird schon jetzt als eine Zeigerwahl für die danach anstehenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern und für die Bundestagswahlen im Jahr 2025 gewertet. Glauben Sie, dass BSW bei der Europawahl ein gesamtdeutsches Phänomen werden kann?

Das liegt allein daran, ob es ihr gelingt, tragfähige Parteistrukturen im Osten aufzubauen oder ob BSW letztlich eine schillernde Färbung der Berliner Blase bleibt. Denn irgendwann braucht – marxistisch gesprochen - der Überbau auch eine Basis.