400 Seiten, geb. Leinen mit Banderole
»Ich bin tief berührt worden, auch in meinen eigenen Fragen zum Thema Vergebung. Dieses Buch sollte nicht nur gelesen, sondern auch diskutiert werden – und zum Curriculum an Universitäten und Schulen gehören« Iris BerbenZum 10. Todestag von Simon Wiesenthal am 20. September 2015 endlich wieder auf Deutsch lieferbar • Möglichkeiten und Grenzen der Vergebung • Im Ausland ein Bestseller, übersetzt in mehr als 20 Sprachen • Darf man das Unverzeihliche verzeihen? Umfassend aktualisierte Neuausgabe mit 59 hochaktuellen Antworten Nicola Jungsberger, Herausgeberin der aktuellen Ausgabe, bat 44 renommierte Persönlichkeiten, jene Fragen für die Gegenwart zu überdenken und einen Beitrag zu den Möglichkeiten und Grenzen von Vergebung zu verfassen. Die Neuausgabe der Sonnenblume enthält ihre Antworten, samt einer Auswahl von 15 Repliken aus früheren Ausgaben: buddhistische und christliche, jüdische und muslimische Geistliche und Theologen, Philosophen und Psychologen, Holocaust-Überlebende und Angehörige von Überlebenden, Täterforscher und Richter, Menschenrechtsaktivisten und Historiker, Schriftsteller und Dokumentarfilmer.
"Simon Wiesenthals Buch ebnete uns den Weg, um der Frage nachzugehen, was es bedeutet, menschlich zu sein nach der Ära der Naziverbrechen, und zwar auf eine Art und Weise, die zuvor nicht möglich gewesen war. Er übertrug unserer Generation, der Generation nach dem Holocaust, die Verantwortung, uns nicht einfach nur Gedanken zu machen über die Frage, ob es richtig oder falsch von ihm war, dem SS-Mann Karl nicht zu vergeben, sondern uns vielmehr damit zu beschäftigen, was es bedeutet, sich angesichts der Folgen des absolut Bösen menschlich zu zeigen. Sein Buch ist wirklich einzigartig, und seine Erzählung zeigt das Potenzial für eine menschliche Beziehung selbst unter unsagbar tragischen Umständen auf. (.....)
Die Tatsache, dass seine (Wiesenthals) Antwort für ihn moralische Fragen aufwarf, die, wie er schreibt, »mein Herz und meinen Verstand herausforderten«, und zwar noch lange nach seiner Begegnung mit dem jungen SS-Mann, und die zu einer unbarmherzigen Reflexion der Frage führten, ob er richtig gehandelt habe, lässt vermuten, dass ihn die Worte des sterbenden Karl berührten. Dies beeindruckte mich an Wiesenthals Erzählung am meisten, als ich sie zum ersten Mal las. Er antwortete nicht mit dieser bestimmten Art von Ekel, die man nach der Begegnung mit einer Person erwarten dürfte, die »radikal böse« Dinge gestanden hatte, um Hannah Arendt zu zitieren, und er wies die Begegnung mit Karl auch nicht als eine ab, die keiner weiteren Überlegungen wert war. Vielmehr beschäftigte sich Wiesenthal weiterhin damit, und er fordert jeden von uns heraus, in seine Fußstapfen zu treten und sich die Frage zu stellen: Was hätte ich getan?Wenn man Die Sonnenblume im 21. Jahrhundert liest, einer Zeit, in der die Sprache der Vergangenheitsbewältigung vom Dialog unter den Tätern all dieser schrecklichen Dinge beherrscht wird, die noch dazu im selben Land wie die Opfer ihrer Verbrechen leben, dann finde ich es schwierig, direkt auf die in Wiesenthals Buch gestellte Frage zu antworten, indem man lediglich die Brille des moralischen Urteils benutzt. Philosophische Fragen können und sollen den Weg bereiten und unter Fragen zusammengefasst werden, die den Menschen betreffen, denn im Endeffekt sind wir eine Gesellschaft von Menschen und nicht von Ideen, ein fragiles Netz aus voneinander abhängigen Menschen und nicht aus Standpunkten.Kürzlich machten wir einen Forschungsbesuch in Bugasera in Ruanda, einem der Dörfer, die vom Genozid am stärksten betroffen waren .... "
"Die Sonnenblume hat in den letzten fünfzig Jahren nichts von ihrem erschütternden Ernst verloren, mit der sie uns die abgrundtiefe Bosheit der Shoah vor Augen führt und in dieser Atmosphäre des scheinbaren Untergangs aller Menschlichkeit eine Begebenheit schildert, die genau diesen Sieg des Bösen dementiert. Nicht bloß in der Figur des reuigen SS-Mannes, sondern gerade in der Rolle Wiesenthals, der nicht aus Hartherzigkeit nicht verzeiht, sondern aus sittlichen Erwägungen, die ihm nicht die hinreichende Gewissheit liefern, hier vergeben zu 'dürfen'. Er hat sie nie gefunden und dennoch nicht aufgehört, sie zu suchen – er, der wie so viele Angehörige seines Volkes derart Schlimmes hat erleiden müssen, dass man versucht wäre, zu denken, er sei von jeglicher sittlichen Einstellung den Tätern gegenüber dispensiert. Er hat diese Frage vielen seiner Zeitgenossen vorgelegt, deren Antworten nach wie vor lesenswert sind. Es ist gut, sie sich heute neu zu stellen und um eine Antwort zu ringen. Nicht mehr als Antwort an Wiesenthal, sondern als Antwort auf eine Frage, die bleibend aktuell ist. Es ist zum einen die Frage, ob und wie Nahestehende eines Opfers vergeben können, was erst in zweiter Linie sie trifft. Zum anderen die Frage der reuigen Täter, wie sie Vergebung sollen erlangen können, wenn die Opfer tot oder nicht zur Vergebung bereit sind. Gibt es eine Pflicht zur Vergebung? Gibt es die Möglichkeit der stellvertretenden Verzeihung? Gibt es einen Neuanfang für den Täter?"
"Mit tränenerstickter Stimme sprach eine Frau, die ihre Mutter nie wieder umarmen wird, eine Mutter, die ihren Sohn verlor, Worte der Vergebung aus: »Ich verzeihe dir. Möge Gott deine Seele begnadigen.« Der Terrorist schaute stumm und stur in die Kamera. Er hat nicht einmal um Vergebung gebeten, noch einen Hauch von Reue gezeigt.Solche Vergebung kommt aus dem tief verwurzelten christlichen Glauben, der schwarze Amerikaner seit der Sklavenzeit getröstet und unterstützt hat. (Wahre Christen versuchen, den imitatio Dei in der Person Jesu zu vollziehen, während Juden die Unterschiede zwischen Gott und Mensch unterstreichen.) Sie hatte eine sofortige Wirkung. Ohne diese übermenschliche öffentliche Vergebung und dem Verzicht auf Gewalt als Reaktion auf den Terror wäre Präsident Obama nicht nach Charleston gekommen, um eine ergreifende und historische Rede beider Trauerfeier zu halten. Noch viel wichtiger, es wäre nie dazugekommen, die Fahnen der Sklavenhalter verschwinden zu lassen– nicht nur in South Carolina, sondern in anderen Südstaaten auch. Die moralische Überlegenheit der Opfer hat endlich zu einer amerikanischen Vergangenheitsaufarbeitung geführt,die noch in den Anfängen steckt. Unmöglich zu wissen, wie es weitergeht.So ergreifend diese Vergebung gewesen ist, wie auch Obamas Rede danach, bleibt dennoch Unbehagen. In einem Land, wo struktureller Rassismus immer wieder tödlich wirkt, weil die Lobby der Waffenhändler immer wieder vernünftige Waffengesetze verhindert, wurde zu viel in Gottes Hand gelassen. Vergebung und Gnade sind theologische Begriffe, wo uns politische fehlen. Es muss gehandelt werden. Denn es geht nicht darum, ob ein einzelnes Opfer einem einzelnen Täter verzeiht. Wie der scharfsinnige Améry schreibt, ist es eine psychologische Frage,und psychologische Fragen hängen von Kontingenzen ab. Wichtiger ist die Frage, was wir tun können, um das Böse der Vergangenheit zu erkennen, damit es nicht in Zukunft wiederkehrt.Obwohl langsam, stockend und oft widerwillig, hat die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung der letzten Jahrzehnte schon politisch gewirkt. Unter anderem hat sie wesentlich dazu beigetragen,dass Juden meiner Generation Deutschland verzeihen können und sollen. Ob sie weitergeht – und andere Länder auch dazu ermutigt, sich mit den Verbrechen der eigenen Geschichte zu konfrontieren, bleibt noch offen."
"Die Frage nach Schuld und Vergebung, der Aufruf zum Nachdenken, den Simon Wiesenthal mit seiner Erzählung Die Sonnenblume an uns richtet, hat mich zutiefst erschüttert. Wie könnte ich von einer Pflicht zur Vergebung sprechen, angesichts des Unmenschlichen, das zu verzeihen er stellvertretend für zahllose Opfer aufgefordert wird? Sprechen kann ich nur von der Bedrängnis, aus der heraus er seine Frage an uns richtet. Ich habe die Not selbst erlebt, in die mich die Aufforderung stürzte, dem Menschen zu verzeihen, der ohne Grund mein Kind in seinem jungen Leben ermordet hat.Was könnte es bedeuten zu verzeihen? Es kann nicht heißen zu vergessen. Was geschehen ist, ist geschehen, kein noch so langer Zeitraum »seitdem« wird daran etwas ändern. Es heißt auch nicht, die Verantwortung des Täters zu relativieren. Er ist und bleibt der Akteur seines Handelns, nicht Opfer zahlloser Bedingtheiten. Vergebung kann nicht Rechtfertigung, nicht Billigung und auch nicht Begnadigung bedeuten. Vergeben heißt nicht, Strafe zu erlassen. Und sie verdankt sich auch nicht der Schwäche, das Unrecht und die Grausamkeit der Tat zu erfassen. Vergebung ist kein Akt, zu dem ich mich entschließe, aus Gründen, die ich zuvor sorgfältig abwäge. Vergebung kann nur ein Prozess, ein Weg sein, der wiederherstellt, was durch die Schuld des Täters zerstört wurde. Ein Zeichen dieses Weges wären jedwede Worte gewesen, hätte sie Simon Wiesenthal an den SS Mann gerichtet. Sie hätten die Wiederherstellung der Beziehung bedeutet, die die Menschheit verbindet.Beziehungssein ist die Urweise des Menschseins. »Der Mensch ist wesentlich auf den anderen hingeordnet«, wusste schon Aristoteles, und Martin Buber sagte: »Der Mensch wird erst am Du zum Ich.« Erst wenn wir anerkannt, wahrgenommen und angenommen werden, können wir in vollem Sinn Mensch werden. Wir sind im Wesentlichen »Relatio«, nicht »Ratio«. Erst im Du, das gleichzeitig vom Ich unterschieden und ihm verbunden ist,kann das Ich, das »Selbstsein« entstehen. In der Vernichtung des anderen vernichte ich mich selbst. Vergebung bedeutet nichts anderes, als die Entfremdung des Täters von sich selbst wieder aufzuheben. (....)Zu vergeben ist keine Aufgabe, die zu leisten ein Mensch aufgefordert werden kann. Vergeben zu können kann ein Prozess, ein Weg sein, der letzten Endes sich nicht dem Tun des Vergebenden verdankt, sondern in der Gnade besteht, den Täter als Teil der umfassenden Beziehung zu verstehen, in der die Menschheit miteinander verbunden ist. Es gibt nicht die Möglichkeit, ein Du zu zerstören, ohne am Ich Schaden zu nehmen."