Erst einmal gar nicht. Die Leute denken ja, als Hirnforscher könntest du deinem Kind mehr helfen als andere Väter. Aber ich fühlte mich noch ohnmächtiger. Ich wusste weder als Vater noch als Neurologe, was ich tun soll. Und als ich mich einlas, wurde mir schmerzlich bewusst, wie wenig wir Autismus verstanden.
Also nahmen Sie die Forschung selbst in die Hand. Wie veränderte Kai Ihre Arbeit?
Vorher genügte mir die Arbeit im Labor. Ich forschte im Detail, etwa an Nervenzellen. Nun begann ich, mir Fragen zu stellen: Was bewirkt meine Laborarbeit? Was kommt im Krankenhaus an? Hilft sie Menschen wie Kai? Ich stellte fest, wie weit sich meine Arbeit in der Forschung von dem entfernt hatte, was mich in den Beruf gebracht hatte. Als ich mein Studium begann, wollte ich Menschen konkret helfen. Dahin kehrte ich zurück. Es ging nicht mehr nur um Forschung und Wissensdurst, es ging um mein Kind.
Wie sah Ihre Forschung aus?
Erst nahm ich ein Sabbatjahr, reiste zu Experten in aller Welt, besuchte Kliniken in den USA, Kanada, Asien. Wie ist der Forschungsstand, wie behandeln die Ärzte? In der Schweiz baute ich dann ein Labor auf. Ein Team aus Experten, dabei auch Verhaltensforscher. Wir forschten mit autistischen Ratten. Wir untersuchten Neuronen in verschiedenen Hirnarealen. Dazu beobachteten wir das Verhalten der Tiere. Unsere Ergebnisse verglichen wir mit den wichtigen Studien. Aber sie passten nicht zusammen. Eigentlich hätten wir gesagt, okay, wir machen etwas falsch. Aber da war Kai, ich sah ihn jeden Tag. Und auch er verhielt sich nicht so, wie Autisten sich laut den Studien verhalten sollten. Erstmals stellten wir das Erlernte infrage. Kai war damit doppelt wichtig. Ohne ihn hätten wir gar nicht mit der Forschung begonnen. Und ohne ihn hätten wir nicht den Mut gehabt, auf uns zu vertrauen statt auf die gängige Lehrmeinung.
Was war das Problem mit der alten Lehrmeinung? Wieso passte sie nicht zu Kai?
Es hieß immer, Autisten hätten kein Mitgefühl. Sie könnten nicht auf Menschen zugehen. Erst recht sich nicht in andere hineinversetzen. Aber bei Kai stimmte das nicht. Er liebte die Menschen, lief zu ihnen hin, umarmte sie und sprach mit ihnen. Und er konnte lesen, was in deinem Kopf vorgeht. Er hat dich angeschaut und gesehen, was du denkst. Wenn er dich ärgern wollte, balancierte er auf der Bordsteinkante. Er wusste, was das auslöst.
Ihre Forschung brachte ein überraschendes Ergebnis, das Gegenteil der alten Lehre. Können Sie das kurz erklären?
Das Problem der autistischen Ratten war nicht, dass sie gefühlsarm waren. Im Gegenteil, die Gebiete, in denen im Gehirn Wahrnehmung und Gefühle sitzen, waren bei ihnen überreizt. Ihre Eindrücke rasten über Signalautobahnen, wurden verstärkt. Sie spürten nicht zu wenig, sondern zu viel: das Licht zu hell, die Töne zu laut, das Wasser zu warm. Sie entwickelten Ängste, schotteten sich ab. Ihr Rückzug war nicht die Störung, es war die Reaktion. Messungen in menschlichen Gehirnen stützten diese Theorie. Wir nannten es das »Intensive World Syndrome«: Autisten leben in einer unglaublich intensiven Welt.
Was heißt das für den Umgang mit Autisten?
Gerade Kinder müssen wir in Watte packen. Wenn wir sie behutsam an die Welt heranführen, ermöglicht das vielen später ein relativ normales Leben. Wichtig ist, dass die Welt für diese Kinder vorhersehbar ist. Genau das haben wir bei Kai falsch gemacht. Wir sind mit ihm ins Kino gegangen, zum Skifahren, nach Indien gereist. Es hieß ja immer, man solle Autisten anregen, sie aus ihrer Routine herausholen. Wir wollten ihm die Welt erschließen. Und haben sie ihm damit erst verschlossen. Er begann sich zurückzuziehen.
Wie groß war die Freude über den Durchbruch?
Es war eher ein Gefühl von Frieden: Endlich verstehen wir Autismus. Was ja heißt: Endlich verstehen wir Kai. Das hat alles verändert. Und es kann auch für andere Eltern und Betroffene alles verändern. Man kann etwas tun. Aber es gibt auch einen traurigen Teil: Für Kai kam unsere Erkenntnis eigentlich zu spät. Als uns bewusst wurde, wie man gerade Kinder schützen muss, war er schon ein Teenager. Da lässt sich vieles nicht mehr umkehren.
Also eine tragische Geschichte?
Nein, das Tröstliche ist: Auch wenn sich für ihn leider vieles nicht mehr umkehren ließ, ist der Alltag seitdem viel einfacher. Das neue Wissen hilft uns, Krisen zu vermeiden. Wir sagen etwa nicht mehr unbedacht Sätze wie: »Morgen gehen wir Schlittenfahren.« Sonst steht er in der Früh auf der Matte: Okay, wir fahren Schlitten. Wann geht’s los? Und bist du um 9 Uhr nicht aus dem Haus, fängt er an auszuflippen. Nein, wir sagen ihm, wann was passiert, und machen es haargenau so. Oder bereiten ihn vor, dass es Abweichungen geben kann: Okay, vielleicht fahren wir morgen Schlitten. Aber zuerst werden wir frühstücken und dann dreißig Minuten ausruhen, und wir fahren nicht vor elf Uhr. Und wer weiß, was noch kommt. Der nächste Schritt ist, ein Gehirn am Computer zu simulieren. Ein solches Projekt leite ich in Lausanne. Auf lange Sicht kann es ein Schlüssel zum Verstehen des Gehirns sein. Wir stehen erst am Anfang.
Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis nach 15 Jahren der Forschung?
Eines hat uns Kai gelehrt: Wir müssen uns ändern, nicht die Autisten. Es ist falsch zu sagen, Autisten fehle es an Empathie. Nein, uns fehlt sie. Für sie. Das muss sich ändern, in der Gesellschaft und in der Therapie.