Bereits im Krieg trat Gmür der verbotenen kommunistischen Untergrund-Partei bei und wurde daher aus der Sozialdemokratischen Partei, die er im Gemeinderat Zürich seit Frühjahr 1942 vertrat, im November 1942 ausgeschlossen. 1944 gehörte er zu den Gründern der Schweizerischen Partei der Arbeit, wurde deren Vizepräsident und Chefredaktor des Parteiblattes Vorwärts.
Im zweiten Band seiner »Histoire du mouvement communiste suisse« trennt der Historiker André Rauber das öffentliche Leben Gmürs in zwei Teile: die Kämpfe in der Schweiz vor und während des Zweiten Weltkrieges und das Wirken nach dem Krieg, vor allem in der DDR als Schriftsteller, Journalist und Kommentator (unter verschiedenen Pseudonymen) in der Weltbühne, der dominierenden kulturellen und intellektuellen Zeitschrift der DDR. Viele dieser großen, geistvollen Reportagen in der Weltbühne sind den Befreiungskämpfen in Afrika gewidmet. In den späten 1950er- und 1960er-Jahren befreiten sich die meisten der heute 54 souveränen Staaten des Kontinents vom kolonialen Joch. Von bewaffneten nationalen Befreiungsbewegungen, den sozialen Widerstands- und Massenbewegungen, ihren Führern und ihren Ideologien hatte die damalige europäische Öffentlichkeit kaum eine Ahnung. Die DDR war die große Ausnahme. Sie bildete Hunderte afrikanischer Kader aus, half mit Waffen und diplomatischer Unterstützung den aufständischen Völkern, insbesondere in der Sahelzone und in Zentralafrika. Die Reportagen (Interviews, Porträts) Gmürs spielten dabei eine wichtige Rolle. Insbesondere die Reportagen über Julius Nyerere und den tansanischen Befreiungskampf, über Kenneth Kaunda und den Kampf in Nordrhodesien (heute Sambia), über Sékou Touré in Guinea und Kwame Nkrumah in Ghana, dem 1957 ersten befreiten Staat in Schwarz-Afrika.
In Leipzig, wo Harry Gmür 1933 doktoriert hatte (Thema der Dissertation: »Thomas von Aquino und der Krieg«), existierte damals eine in Europa einzigartige Institution: das Afrika-Institut der Karl-Marx-Universität. Dort entstand die kohärente anti-imperialistische Theorie, die fortan als Basis diente für die aktive Solidaritätspolitik der DDR mit den Befreiungsbewegungen und neu entstandenen afrikanischen Staaten. Der Leiter des Institutes war der bedeutende Historiker Walter Markov. Sein wohl einflussreichstes Werk trägt den Titel: »Zur universalgeschichtlichen Einordnung des Afrikanischen Befreiungskampfes« (Leipzig 1961). Markov beriet die DDR- Regierung in ihrer aktiven solidarischen Afrika-Politik. Sein Oberassistent, mein Freund, der Soziologe Klaus Ernst, wurde Botschafter in Mali. Als Berater von Modibo Keita, Staatschef in Bamako und 1963 Mitbegründer der Organisation der Afrikanischen Einheit, übernahmen Ernst und Markov eine bedeutsame Rolle in der Definition der afrikanischen Souveränitätsstrategie.
Die informativen, klugen, literarisch eleganten Reportagen Gmürs trugen viel zum empirischen Wissen der Forscher des Afrika-Instituts bei. Das weiß ich dank der persönlichen Begegnung mit mehreren der einst in Leipzig tätigen Anthropologen, Historiker und Soziologen jener Zeit (seit der Wiedervereinigung ist das Institut »abgewickelt«, das heißt zerstört, liquidiert).
»Man kennt die Früchte nicht der Bäume, die man pflanzt«, heißt ein Sprichwort des uralten Bauernvolkes der Wolof im Senegal.
Dissidenten sind selten erfolgreich. Oberflächlich gesehen, enden fast alle in der Niederlage. Peter Surava und Carl Albert Loosli haben ein Leben lang gegen das helvetische Kollektiv-Verbrechen der Verdingkinder gekämpft. Zehntausende Kinder aus ärmsten Familien wurden an Bauern «verdingt». Sie wurden ausgebeutet, gequält, missbraucht und misshandelt in katholischen Waisenhäusern und staatlichen Zwangserziehungsanstalten. Die Kinder waren wehrlos. Sie litten oftmals die Hölle. Das staatlich sanktionierte Verbrechen endete erst 1981, viele Jahre nach dem Tod von Loosli und Surava. Eine scheinbare Niederlage erlitt auch Harry Gmür. Die objektive Allianz mit Walter Markov und seinen Kollegen zerbrach, als Markov wegen »Titoismus« verhaftet wurde. Unter den Nazis hatte er zwölf Jahre im Zuchthaus Bautzen gesessen. Jetzt kerkerten ihn die dumpfen Häscher der Stasi ein.
1944 hatte Gmür mit heller Begeisterung in der Schweiz die PDA mitgegründet. Heute ist die PDA – obschon ihr noch einige ehrenwerte Frauen und Männer angehören – eine bedeutungslose Sekte. Keine Spur mehr von der schweizweiten, demokratischen und sozialistischen Massenbewegung, die sich Harry Gmür erträumt hatte. Auch den Vorwärts gibt es noch, dessen erster Chefredaktor und Chefideologe Gmür einst war. Seine politische Bedeutung ist heute gleich null. Der Betonkonsens zwischen Finanzoligarchie, bürgerlichen Partei-Apparaten und residueller Sozialdemokratie hat unser Volk fest im Griff. Jedoch alle diese augenscheinlichen, individuellen Niederlagen der Dissidenten verstellen den Blick auf die wirkliche Wirklichkeit.
Im Talmud von Babylon steht der mysteriöse Satz: »Die Zukunft hat eine lange Vergangenheit.« Ohne ein von Mythen und Lügen befreites Kollektiv-Gedächtnis gibt es keine ertragbare Zukunft, für kein Land. In der Erfassung und Erhaltung dieses Kollektiv-Gedächtnisses erfüllen die Dissidenten eine entscheidende Aufgabe. Sie sind die Ehre der Schweiz, der Atem der Demokratie. Harry Gmür schulden wir tiefe Dankbarkeit und Bewunderung. Dr. Mario Gmür und dem Europa Verlag gebührt Dank für die Herausgabe dieses eindrucksvollen Buches.