Am Rand der südkoreanischen Megacity Seoul wächst Minu in einem von Bandenkriminalität beherrschten Armutsviertel auf. Er kann studieren, arbeitet sich hoch und bringt es als Architekt mit einer eigenen Baufirma zu Ansehen und Wohlstand. Eines Tages erhält er eine Nachricht von seiner Jugendliebe, und auf einmal erwachen alte Erinnerungen. Als er den Ort seiner Kindheit wieder aufsucht, findet er aber keinerlei Spuren der Vergangenheit mehr: »Es war, als hätten ich und meine verstorbenen Eltern dort nie wirklich existiert.«
Seine Geschichte kreuzt sich mit einer anderen, die von einer jungen Frau erzählt wird. Uhi will ihren Traum, sich als Theaterregisseurin durchzusetzen, nicht aufgeben. Mit Nachtschichten in einem 24-Stunden-Nahversorger kann sie die Miete für ihre winzige Souterrain-Wohnung kaum stemmen. Allerdings hat sie einen Wettbewerb gewonnen, und das lässt sie weiter hoffen. Während sich Uhi mühsam über Wasser und ihren Traum am Leben hält, grübelt Minu Versäumnissen nach, die er nun auf einmal wahrnimmt. Im Rückblick reut es ihn, dass er nur seine eigene Karriere verfolgt und nicht mehr Verantwortung übernommen hat. In einer Zeit der Ausbeutung von Arbeitern und Entrechtung der Schwachen stand er doch eigentlich, so muss er sich eingestehen, fast nur auf der Täterseite.
Dämmerstunde bildet eine tiefgründige Ergänzung zu Vertraute Welt, diesem märchenhaften Roman, der auf der großen Mülldeponie am Rand von Seoul angesiedelt ist. Hier wie dort geht es um die unterschwellige Wirkung der verdrängten, fast ausgetilgten »unterentwickelten« Welt auf die modernen Verhältnisse in einem Land, in dem beim Streben nach wirtschaftlicher Entwicklung und Erfolg wenig Rücksicht auf Verluste genommen wurde. In Dämmerstunde dämmert das einem Menschen, den vielerlei Umstände zur Rückschau anhalten – nicht nur die plötzlich geweckte bittersüße Erinnerung an eine alte Liebe. Doch es dämmert gleichzeitig auch wieder etwas herauf ...