Ungarn in den 1980er-Jahren: Der Balaton, oder Plattensee, ist ein beliebtes deutsch-deutsches Urlaubsziel. Hier liegen Ost- und Westdeutsche einträchtig nebeneinander am Strand, durch den Mauerbau getrennte Familien machen gemeinsam Ferien. Es ist ein Ort der gelebten Wiedervereinigung, lange bevor am 11. September 1989 Ungarn seine West-Grenzen für DDR-Bürger öffnet und kurz darauf die Mauer fällt. Aber es fallen auch Schatten über die scheinbare Idylle. Während »die Badewanne Ungarns« für die Besucher aus der BRD ein billiges Urlaubsvergnügen ist, müssen die DDR-Bürger jede Mark zweimal umdrehen und verpflegen sich überwiegend aus von zu Hause mitgebrachten Lebensmittelvorräten. Dennoch ist der Balaton für viele von ihnen ein Sehnsuchtsort, ein erster Schritt in Richtung Westen. Und auch ihre ungarischen Gastgeber träumen von der Freiheit, sowohl die kleinen Leute als auch die Privilegierten, die ihr vergleichsweise gutes Leben gern gegen ein noch besseres im westlichen Ausland eintauschen würden.
Noémi Kiss fängt wie keine andere in ihren Novellen die besondere Stimmung dieser Zeit vor dem totalen Umbruch ein, lässt ihre angespannte, abwartende Stille geradezu greifbar werden. Auf fast beiläufige Art gewährt sie – aus der Sicht eines jungen Mädchens – tiefe Einblicke in die sozialistische Welt der Reichen und der Armen, und immer vermischt sich die Spannung des Entdeckens mit dem aufwühlenden Gefühl der Beklemmung. Ist die Sommerfreude auch noch so ausgelassen, das Wasser schwemmt immer wieder entglittene Schicksale, Verbrechen, Geheimnisse und Lügen ans Ufer. Oder warum heißt es, der alte Botlik sei beim Schwimmen ertrunken, obwohl jeder weiß, dass kein Anwohner des Plattensees freiwillig in der August-Mittagshitze in den See steigen würde?